Montag, 16. Oktober 2017

Abgetaucht ins Mittelalter

Mittelaltermärkte, Fantasyromane und -verfilmungen, Museen, Dokumentationen und Luther-Specials zum Reformationstag zeugen von einem großen Interesse an circa Tausend Jahren europäischer Geschichte, genannt: "das Mittelalter". Mehr aber als nur ein cooles Setting für Rollenspiele oder als das nerdige Interesse mancher Akademiker bietet das Erforschen dieser Zeit auch Einsichten, die ganz unmittelbar mit unserer aktuellen Lebensgeschichte zu tun haben. (Bildquelle: Sandu Kavah, MPS Hamburg 2017)


Gegenfolien soweit das Auge reicht

Aber zurück zu Frodo, Luther, und anderen Dämonen dieser Zeit. Was ist das Mittelalter überhaupt, und warum interessiert es viele Leute? Die erste Frage kann man getrost ignorieren, denn zu beantworten ist sie nicht. Das Mittelalter ist eine so große Zeitspanne einer so großen geographischen Region, dass man davon ausgehen kann, dass es nichts gibt, das einheitlich dem Mittelalter angehört und dieses in seinem Wesenskern definiert. Sicher, es gab Burgen, Kirchen, viel Dorf, wenig Stadt, noch weniger Adel, fast alle haben geschuftet und alle gestunken, die Hälfte hatte die Pest oder Lepra und die Inquisition hat so ziemlich jeden verbrannt, der versucht hat, logisch zu denken – unterstützt vom abergläubischen Pöbel. Es ist gut bekannt, dass das alles Stereotype sind, die zwar zutrafen, aber doch nicht für die gesamten 1000 Jahre. Das meiste, das man darüber weiß, betrifft doch eher schon das Ende des Mittelalters. Und auch eher Zentraleuropa. Außerhalb dieses Flecken gab es erst recht kein "Mittelalter", denn dort finden sich ganz andere Zäsuren. Kurz gesagt geht man von einer dunkel-düsteren Zeit aus, die mit dem Untergang Roms begann und erst mit dem Aufkeimen der Renaissance endete; denn Rom und die ganze Antike war bekanntlich ebenso wie die Renaissance der Inbegriff von Fortschritt, einzig getoppt natürlich von der Aufklärung und, noch etwas höher, unserer gegenwärtigen, modernen Welt, die quasi schon am Ende der Geschichte angekommen ist. (Oder war das schon bei Hegel? Egal.)

Der gute Adorno
(Bildquelle: Wikicommons)
Oder so ähnlich wird es manchmal angesehen. Untermalt wird dieses Bild mit Worten wie "wir sind doch nicht mehr im Mittelalter!", um eine z.B. nichtwestliche Kultur oder einen ausnahmsweise falsch denkenden Europäer für seinen Aberglauben oder moralischen Verfall zu rügen. Weil es von diesen falschdenkenden Westlern mittlerweile wieder so viele gibt, dass sogar ein genetisch verändertes Meerschweinchen Präsident der USA werden konnte (sorry an alle Meerschweinchen), werden auch die Rufe immer lauter, die Empörung, das Unverständnis: "Aber wir sind doch nicht mehr im Mittelalter! Wie kann es sowas im 21. Jahrhundert immer noch geben?" 

Gute Frage. Dieser Frage sollten wir weiter nachgehen. Weiter, als Adorno es geschafft hat, der ja bekanntlich bereits die Dialektik der Aufklärung, welche in ihr faschistisches Gegenteil mündet, treffend analysiert hat. Aber eins nach dem anderen. Bleiben wir noch kurz bei dem Mittelalter als Alterierungsdiskurs, d.h. als Gegenfolie zur Aufklärung, zur Moderne, als das "ganz andere" gegenüber der heutigen Zeit und heutiger Werte: Denn diese Gegenfolie wird nicht nur unter die Banner des Humanismus geschrieben, sondern findet ebenso kulturkritische, gegenwartsskeptische Anstriche. 

Die mystische Hochzeit.
Hochgefühl so mancher Nonnen und einiger Mönche.
(Bildquelle: Wikicommons)
Während die einen das Mittelalter als Inbegriff des Aberglaubens, der unzulässigen Vermischung von Religion mit weltlicher Macht ansehen, ist es für die anderen (und ich spreche jetzt nicht primär von Christen, denn bei denen ist klar, dass sie um die verloren gegangene "Blüte" ihrer Religion trauern) – ist es für die anderen auch ein Ort von Weisheit und spirituellem Wissen; Dieses Wissen, das von Hexen und Organisationen im Untergrund oder auch vom einfachen, nicht ganz so christlichen und noch irgendwie paganen Bauern in desren Brauchtümern weitergegeben und praktiziert wurde. Die heutige Welt ist entzaubert, so lautet die Diagnose, und natürlich war das Mittelalter voller Zauber; wenn auch nicht voller Gandalf-Sauron-Duelle, so doch zumindest voll Wissen um spirituelle Wesenheiten, die einen im Traum besuchen, die Seele rauben, und, äh, auch manchmal schöne Dinge tun. Wie z.B.... Naja, es gab ja auch die sogenannte "Brautmystik", aber genauer gehe ich darauf nun nicht ein. Einigen wir uns darauf, dass die Mystik in ihrer Blüte stand und auch ansonsten pagane und christlich-spirituelle Weisheiten verbreitet waren und das war ziemlich cool (jedenfalls finden das Manche).

Hierzu ist zu sagen, dass Dinzelbachers Ansatz einer "Psychohistorie" sehr interessant ist, doch er fällt leider weit von seinem Ziel zurück, was wissenschaftliches Arbeiten angeht. Breit angelegte Vergleiche und Interpretationen verschiedener Mystiker machen sein Werk eher zurInspirationsquelle, historische Fakten findet man in vereinzelten Darstellungen, jedoch gemischt mit Mutmaßungen. Das Konzept von "Mystik", das er ausbreitet, ist eine neumoderne Erfindung. Wäre ja nicht so schlimm, wenn er das wenigstens reflektiert hätte. (Döbler zeigt, wo das Problem liegt).

Auch Wertkonservative und andere Kulturkritiker, die irgendwie "postmoderne Einsamkeit" empfinden, schätzen am Mittelalter durchaus diese heute verlorengegangenen Werte, wie man sie auf dem Dorf angeblich vorfand: Die Gemeinsamkeit. Und die klare Lebensstrukturierung. Alles war so einfach, und man war nicht so entfremdet. Nicht so technisiert und bürokratisiert alles. Verloren geglaubte Natürlichkeit, am warmen Herd der Familie. Auch wenn der manchmal etwas ungemütlich war. Und dreckig. Und eng. Vor allem für Frauen. Naja, Details. 

Im Alterierungsdiskurs zählen die Fakten viel weniger als die Idee, Details interessieren nicht, es geht um die Aussage. Die Idee ist, je nachdem, was man gerade aussagen möchte, immer eine solche, die wir zurück auf die Gegenwart beziehen: So wie damals, so sollte es eigentlich sein; oder nie wieder werden. 

Die historisch-kritisch-intuitiv-psychologische Methode, oder so

Tut man damit nicht den Leuten unrecht? Ich meine, wenn man es nicht differenzierter betrachtet, wie sie eigentlich wirklich gelebt haben? - Aber die Leute leben ja nicht mehr, wie kann man ihnen also Unrecht tun? - Und tun wir dann nicht uns selber unrecht, unserem Erbe, unserer Geschichte?

Hexenprozesse
(Bildquelle: Wikicommons)
Vor allem die Aufklärer und Humanisten werden ein Problem damit haben, das Mittelalter als Alterierungsdiskurs zu verwenden. Immerhin stehen sie ja für Wissenschaft. Also auch in der Geschichtsschreibung. Und viele Wissenschaftler finden es witzig, wie irgendwelche Esoteriker so einen Mythos aus dem Mittelalter bauen. Z.B. die angeblichen Hexenverfolgungen – die gab es doch erst in der Neuzeit, nicht im Mittelalter. Und das waren auch viel weniger, als es immer behauptet wird. Und die Inquisition war auch nicht hauptschuld, sondern die Dorfbewohner klagten sich gegenseitig an und wollten einander gerne brennen sehen – v.a. das hübsche 14jährige Mädchen, das die nächtliche Umarmung verweigerte und außerdem rote Haare hatte.

Aber eigentlich ist die Quintessenz der wissenschaftlichen Historie meistens ganz langweilig: Wir haben so wenig Informationen, und in die Köpfe der Menschen können wir auch nicht gucken. Also sind alle Vermutungen über z.B. eine im Untergrund lebende Hexenreligion oder einen Meister Eckhart, der mystische Erfahrungen hatte, reine Spekulation. Wir können ja fast nichts darüber aussagen. Und diese Langeweile wird dann in wissenschftlichen Papern zelebriert (mit Ausnahmen!). Spekulationen werden verboten, psychologische Deutungen ignoriert, was-wäre-wenn-Fragen belächelt. 

Die legendäre Päpstin Johanna
(Bildquelle: Wikicommons)
Dem gegenüber stehen dann "alternative Archäologen" wie z.B. die neopagane Hexe Z. Budapest, oder ein kulturübergreifender Vergleich durch alternative Akademiker wie H.-P. Dürr oder M. Eliade, die als Informationsquelle über die Vergangenheit lieber ihre Intuition und Vorstellungsgabe sehen, als die wissenschaftliche Analyse von gegebenen Fakten. Ist der Ansatz besser? Er ist auf jeden Fall gefährlicher, denn natürlich kann man mittels Vorstellungsgabe alles in alles interpretieren und das wurde nicht nur zur Zeit der Romantik, sondern auch in der Gegenwart, getan – mit den bekannten nazistischen und stalinistischen Folgen. Eine Art der mythologischen Geschichtsforschung hat aber neben all der Kritikwürdigkeit auch Vorzüge. 

Es geht ja auch um Inspiration. Wir wollen etwas aus der Geschichte lernen, was eher gelingt, wenn sie nicht langweilig ist. Wenn klar ist, dass es nicht "die Geschichte", sondern "eine Geschichte", eine Erzählung, eben Fantasy ist, - aber Fantasy, das an die erforschbare Geschichte angelehnt ist, das daher seine historische Plausibilität gar nicht so weit einbüßen muss: Ein "was wäre wenn", wie es D.W. Cross in "Die Päpstin" z.B. erzählt. Auch neopagane Hexen wie Starhawk sprechen ganz bewusst von einem Mythos der Hexenreligion zur Zeit des Mittelalters – die Message dieses Mythos zur Befreiung vom Patriarchat ist das, worauf es ihnen ankommt, nicht ihre Belegbarkeit durch Fakten.

Trotzdem ist es wichtig, die Fakten von den Mythen und das Gesicherte vom Spekulativen unterscheiden zu können. Wenn ich gute wissenschaftliche Arbeit machen will, kann ich doch kenntlich machen, wo ich beginne, zu spekulieren, und worauf sich meine Spekulationen begründen. Man weiß natürlich nicht, was gewesen wäre, wenn Luther nicht existierte, und man weiß auch nicht, was in den Köpfen der Bauern vor sich ging, die im 15.-16. Jh. gegen die Herrschenden aufbegehrten und Luthers Unterstützung verwehrt bekamen. 

Das "lustige" Bauernleben, das manchmal so romantisiert wird
(Bildquelle: Wikicommons)
Doch warum es nicht wagen, sich kurz in diese Situation hineinzuversetzen und psychologisch fundierte Vermutungen zu äußern? Wenn die Bauern in ihren 12 Artikeln gegen die Herrscher schon direkt an Reformatoren appellierten, sie mögen ihre Artikel auf theologische Richtigkeit hin beurteilen – denn sie sahen die Reformation als große Chance zur Gleichheit aller Christen auf auch Erden – und wenn Luther stattdessen erklärte, dass die Bauern wie ungezogene Kinder seien und einige ihrer Unterstützer sogar als den wahrhaften Antichristen hinstellte, schließlich sogar dazu aufrief, sie allesamt brutal niederzunetzeln – ist es dann nicht naheliegend, dass sich einige von ihnen verraten und entmutigt fühlten? Ist es nicht möglich, dass Luthers Stimme gegenüber manchen Fürsten durchaus Gewicht hatte? Hatte er nicht Mitschuld am fürchterlichen Ausgang des Bauernkriegs?

Aber reden wir doch nicht davon. Nicht im schicken Jahr der Reformation. Luther war ja ansonsten auch ein feiner, apokalyptisch-paranoider fortschrittlich denkender Antisemit Kritiker seiner Zeit. Stimmt ja auch. Aber nicht nur.

Mittelalter in der Postmoderne

Und, macht Mittelalter nicht Spaß? Also natürlich nur in der Retrospektive... Man lernt vieles daraus, sowohl aus den interessanten Mythen wie aus den interessanten Fakten, aber wir haben immer noch nicht die Frage beantwortet, wie es nun mit dem Fortschritt oder Rückschritt steht. Warum unsere Zeitgenossen (alle außer uns natürlich) immer noch so mittelalterlich denken. Diese Frage ist dann auch der persönliche Bezug, den wir zum Thema Mittelalter gewinnen können: Wir können auch noch mehr Psychologisches daraus lernen.

Meine Ahnentafel sah zwar nicht so schick aus,
aber war dafür auch umfangreicher
(Bildquelle: Wikicommons)
Stellen wir uns doch einfach mal vor: Diese Leute, die da z.B. im Gemetzel der Bauernkriege in Schwaben, im Allgäu, in Oberfranken, im Elsass usw. überlebten, waren meist unsere Vorfahren. Besonders krass fand ich diese Erkenntnis, als ich eine Ahnentafel angelegt hatte, und, tatsächlich, über eine meiner Urgroßmütter kam ich über eine Onlineseite zur Ahnenforschung weiter zurück in die Vergangenheit. Generation um Generation tiefer in die Jahrhunderte konnte ich vordringen, tausende von Namen, die mir alle nichts sagten, die aber doch einen Teil meiner Linie ausmachten – nicht nur einer Bluts- sondern v.a. einer Prägungslinie. Zugegeben, es ging nicht tief ins Mittelalter, weil es da erst spät Aufzeichnungen von Geburten gab, aber immerhin bis ins 14. Jahrhundert. Und da sah ich sie: Wie sie über Generationen hinweg im selben Dorf lebten, den selben Beruf ausübten, teilweise die Großcousine heirateten, und fast alles waren Bauern: Meine Ahnen!

Hat so eine Lebensweise nicht einen bleibenden Eindruck, auch für uns heute? Man kann es vielleicht erahnen. Die ganzen Kriege, die Knappheit der häuslichen Mittel, die Frömmigkeit, die starren gesellschaftlichen Regeln, die Angst vor Dämonen und Ketzern. Kommt davon einem nichts bekannt vor? Schlummert da nicht irgend etwas? Sicher, wir erklären die Angst unserer Oma, die den Rolladen immer unten haben muss, mit den Erlebnissen vom 2. Weltkrieg. Aber geht es nicht tiefer? Auch in der Frage, wie es überhaupt zu Nazideutschland kommen konnte. Der Antisemitismus, die Hörigkeit, die Dummheit, die Wut und Kriegstreiberei. Das sitzt tief, und es ist immer spannend, sich zu vergegenwärtigen, dass die Geschichte nicht von irgendwelchen Leuten gemacht wurde, sondern von unseren ganz persönlichen Ururururur-...urgroßeltern, -großtanten, -großgroßcousins, usw. Je weiter zurück man geht, umso mehr Leute, die gleichzeitig lebten, sind mit einem "direkt" verwandt! Gäbe es nur einen einzigen davon nicht, wäre man jetzt nicht am Leben. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ist es also wirklich so, dass das Mittelalter vorbei ist? War es jemals vorbei? Gab es die Aufklärung wirklich? Klar, es gab sie, aber war sie nicht eher ein Gespenst? Ein Ideal? Ein Wunschtraum? Vielleicht haben wir einigen Aberglauben abgelegt, und der technische Fortschritt hat auch die Bildung, die Perspektive, die Freiheit ungemein vergrößert. Aber man betrachte doch einmal, was von einer Generation unweigerlich an die nächste weitergegeben wird. Die Hörigkeit, die von Kindern gegenüber ihren Eltern nach wie vor eingefordert wird, die emotionale Vernachlässigung, die intellektuelle Vernachlässigung, der empathische Umgang mit Ängsten und Wut, der nicht beigebracht wird, das alles ist doch immer noch Standard; auch wenn es sich nicht mehr geziemt, Babys wegen ihres Geschlechts im Stroh verhungern zu lassen. Wir haben ja sogar die Prügelstrafe verboten! Welche Zivilisation hat es soweit gebracht? Zumindest steht es im Gesetz. Das müsste dann ja auch reichen? Über die Bedeutung von kränkenden Blicken und gehässigen Tonfällen, von emotionaler Kälte in der Kindheit, davon weiß doch fast keiner was. Das wird schon nicht so schlimm sein. Das betrifft nur die psychisch Kranken, die Ausnahmefälle. Nicht wahr?

Grüße von den Orcs. Eigentlich sind sie doch ganz lieb.
(Bildquelle: Sandu Kavah, MPS 2017)
Die systematische Dummheit schlägt eben auch die Schlauesten unter uns, wenn wir nicht begreifen können, wieso in unserer heutigen Zeit noch so viel Mittelalter existiert. Wir haben einfach dem Mythos der Aufklärung geglaubt. Doch die dunkle Zeit existiert in uns allen. Ist es nicht auch das, was uns Gollum gelehrt hat? Insofern: lasst uns vom Mittelalter lernen, was auch immer es genau war. Lasst uns weg von den langweiligen Fakten und den wahnwiztigen Verdrehungen der Fakten. Lasst uns auf psychologische Spurensuche in den Tiefen der Zeit gehen. Und wenn ihr was findet, schreibt doch gerne darüber.



Ein paar interessante Referenzen:


  • Ohne Verfasser: Die Zwölf Artikel, in: Flugschriften der Bauernkriegszeit (Hg: A. Laube)
  • Luther, M.: Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft
  • Luther, M.: Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern
  • Hutton, R.: The Triumph of the Moon. A History of modern pagan Witchcraft
  • Dinzelbacher, P.: Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters. 
  • Döbler, M.: Die Mystik und die Sinne. Eine religionshistorische Untersuchung am Beispiel Bernhards von Clairvaux
  • Budapest, Z.: The Holy Book of Women's Mysteries
  • Starhawk: The Spiral Dance


Samstag, 15. April 2017

Klartraum- Geisteshaltungen und innere Motivation

Motivation: Der Grundpfeiler


Grundpfeiler in Ruinen
(Bildquelle: Diego Delso)
Die anfängliche Euphorie ist vorbei, man möchte weiterhin gerne Klarträumen, doch die Techniken, die man sporadisch versucht, bringen keinen dauerhaften Erfolg. Was ist schief gelaufen? Ich würde an dieser Stelle fragen: Was ist eigentlich deine Motivation zum Klarträumen? Die Motivation ist aus meiner Sicht der wichtigste Grundpfeiler für Klarträume und wird meist stiefmütterlich behandelt. Der Grund dafür ist einfach: Als Anfänger ist die Motivation ob der unendlich Möglichkeiten, die sich einem angesichts der vielen neuen Traumwelten auftun, schäumend. Dann braucht man sich nur noch um die Übungen zu kümmern und es läuft. Doch wenn die Motivation schwindet oder nur so dahindümpelt neben anderen, scheinbar wichtigeren Unternehmungen und Kopfgespenstern im Alltag, dann helfen die Übungen alleine auch nicht mehr viel.

Unter einer Motivation, die der Klarheit als Basis dient, verstehe ich nicht einfach die Tatsache, dass man genug Willenskraft aufbringt, um seine Übungen durchzuziehen. Ich verstehe darunter auch nicht einfach ein "ich hab ja eigentlich schon richtig Lust", denn im "Eigentlich"-Gefühl klafft ja bereits die Wunde der intrinsischen Motivation. Es geht daher vielmehr um die Frage, wieso man überhaupt Klarträumen will.

Über diese Frage sollte man nicht zu voreilig urteilen. Denn ich meine damit keine Frage, deren Antwort man sich einfach frei aussuchen könnte. Die Antwort darauf sollte nicht einmal nach Gründen bohren, sie sollte ketzerisch genug sein, um ein "ehrlich gesagt sind mir die Träume doch nicht so wichtig" zuzulassen. Die Frage sollte zunächst eine reine Erforschung sein, keine Entscheidung. Denn die entscheidende Instanz in uns ist sowieso meist nicht das rationale Wachbewusstsein, das uns die Illusion von Kontrolle im Alltag bringt. Wir handeln konsequent gegen alle unsere guten Vorsätze, sofern im Innern keine Resonanz zu ihnen besteht. Und oft lässt sich bei genauerer Überprüfung einer Entscheidung feststellen, dass wir sie im Grunde schon getroffen haben, bevor es uns bewusst war.

Versunkenes Steuer
(Bildquelle: Juha Flinkman)
Du bist, in dieser Geisteshaltung der Erforschung – eine der Klarheitsgeisteshaltungen, über die ich noch reden werde – zunächst nur ein Beobachter. Einer, der Klarheit in das Dunkel der tieferen Antriebe und Motive bringen kann. Erst durch diese Klarheit entsteht später das Gefühl der Handlungsmacht, der Freiheit. Aber zunächst geht es darum, sich selbst – seine verborgenen Wünsche und seine tieferen Gründe kennen zu lernen.


Herzenswünsche und Blockaden


Die Entspanntheit in dieser Herangehensweise drückt sich darin aus, dass es schon ok ist, wenn das Klarträumen z.B. eben nicht den höchsten Stellenwert hat. Es ist ok, weil es keine Instanz gibt, die darüber entscheidet, was dir wichtig ist, außer dir selbst. Und du selbst, das ist ein tiefer, meist verborgener See, und nicht das hastige Gedankenplappern, das immer direkt unzählige Dinge im Kopf hat, die angeblich wichtig sein sollen.

Ich würde es also so angehen, sich ganz unabhängig von Träumen erst einmal zu fragen, was ich denn im Leben will. Was ist mir wichtig? Welche Themen treiben mich um, was für Gefühle leiten meinen Tag? - Und dann auch meine Nacht. Was würde ich gern erleben? Was sind meine momentanen Baustellen und wie lange kann das so weiter gehen, dass ich sie ignoriere? So kann man die Träume mit den aktuell brisanten Angelegenheiten verbinden: Wie hängen eigentlich meine Träume mit meinen tiefsten Herzenswünschen zusammen?

Verwahrloste Wege
(Bildquelle: JanSuchy)
Denn die tiefsten Herzenswünsche, sobald man sie aufspürt, bringen die beste Motivation. In welche Richtung diese Motivation geht, d.h. wozu sie einen dann anspornen, was man genau tun will, um seine Wünsche zu erfüllen – das bleibt erstmal offen und es ist auch nicht zwingend, dass die Traumarbeit ein Teil davon sein wird. Aber die Klarträume haben hier ein großes Potenzial. Daher wäre die Frage: Wie kann mir die Klarheit bei der Erfüllung meiner Herzenswünsche helfen?
Es ist eine Illusion, zu glauben, man hätte irgendwann schon wieder mehr Zeit – wenn nur endlich diese Prüfung bestanden, diese Termine erledigt, diese Arbeiten nachgeholt wurden. Denn dann kommen neue Aufgaben. Die glorreiche Zeit des freien Stundenplans wird es nicht geben, die Zeit für Entspannung, für Lebensfreude und zur Selbstheilung wird nicht von selbst eintreten, man muss sie sich schaffen. Und zwar am besten direkt jetzt.

Die eigenen Motive zu ergründen heißt auch, Blockaden zu erforschen. Man könnte unter Blockaden hemmende Motive verstehen. Man sollte sich ernsthaft darauf einlassen, diese wahrzunehmen und ihnen auf den Grund zu gehen. Denn oft zeigen sie Fehlvorstellungen gegenüber den Träumen an, und sobald genug Licht in die Sache gekommen ist, könnte es passieren, dass man diese Fehlvorstellungen aufgibt. Sie können z.B. darin bestehen, die ganze Unternehmung als etwas stressiges, pflichthaftes, lebensfernes, alltagsfernes, anstrengendes und lästiges anzusehen. Dahinter stecken Glaubensbilder, überkritische innere Stimmen, vereinzelte schlechte Erfahrungen mit der Traumarbeit und auch langjährige Prägungen von Schuld- und Pflichtgefühlen in der Kindheit.

Blockierte Sicht
(Bildquelle: Tom Waterhouse)
Ein fataler Gedanke entsteht z.B. dann, wenn man nach stark motivierter Übung endlich einen Klartraum hatte. Er war vielleicht nicht grandios, aber es war ein Klartraum, immerhin. Und dann denkt man vielleicht, im Unbewussten: Das Klartraumkontingent ist nun ausgeschöpft. Nächste Woche, nächsten Monat oder so dann wieder. Aber warum nicht einfach direkt heute wieder? War das Ziel wirklich nur, einen Klartraum zu haben, so dass es bereits erfüllt und abgehakt wurde? Wieso nicht groß Träumen? Von Träumen, die mehr bringen, als Fliegen, Sex oder seltsame Antworten von Traumfiguren? Ohne Frage sind das auch grandiose Sachen, von denen man nicht schnell satt wird. Aber man muss seine Klarheit nicht sorgfältig aufsparen. Sie wird nicht einfach "verbraucht", wenn man einen Klartraum hatte.

Man sollte die vielen kleinen Dinge als Erfolge würdigen. Sei es eine gute Traumerinnerung oder ein kurzer klarer Moment, sei es eine interessante Traumbegebenheit oder eine bewusste Hypnagogie oder auch das Traumgefühl kurz im Alltag – das sind alles Erfolge, und wenn man sie wertschätzt, dann kumulieren sie in einem positiven Gefühl. In dem Gefühl: Da ist noch mehr drin. Ich wachse. Ich bin lebendig. Mein Ziel ist daher nicht, einen Klartraum zu haben. Sondern eine langfristig angelegte Klarheit, im Wachen, im Schlaf, im Zwischenzustand. Eine Fähigkeit, das Leben zu genießen, vieles zu erforschen und es und zum Besseren zu wandeln. Wär doch geil, wieso nicht?


Lucid Living als Selbstzweck


Klarheit als Abenteuer
(Bildquelle: Unsplash)
So werden auch Erfolge und Misserfolge relativiert. Dann sind Übungen nicht einfach nur dazu da, einen Klartraum zu erreichen, sondern sie haben auch einen Selbstzweck. Denn wie kann es sein, dass man für das Klarträumen Techniken durchackern muss; dass man für eine Sache, die so viel Freiheit und Kreativität entfesseln kann, so unfreie und gezwungene Übungen machen soll? Lucid Living entthront das Klarträumen, insofern dass die ganzen Übungen am Tag und in den Zwischenzuständen: – das Erforschen von Hypnagogien, das Experimentieren mit dem Schlafrhythmus, das Erinnern an Träume, das Ergründen der Realität, die Achtsamkeit auf die Wahrnehmung – zu einem Selbstzweck werden, der begeistert. Das ist nämlich eigentlich das große Geschenk, das die Idee des Klarträumens jedem geben kann, ganz unabhängig davon wie oft man wirklich Klarträume erlangt und wie viele seiner Ziele man darin umsetzt.

Ich empfehle daher, sich nur an solche Übungen zu halten, die interessant sind, die beflügeln, die letztendlich gar nicht als "Techniken" wahrgenommen werden, die nur einer Sache dienen, sondern bei deren Ausführung selbst man schon das Gefühl hat, dass es einem etwas bringt. Und was Spaß macht und beflügelt, hängt auch davon ab, was einen gerade zur Zeit so beschäftigt. D.h., diese Übungen müssen ständig an den Lebensalltag wieder angepasst und in diesen eingebaut werden, damit sie auch zum Leben dazu gehören und mehr als tote Trockenübungen sind.

Wieso sollte man Hobbys haben, die einen stressen, wieso selbst in der Freizeit sich mit Pflichtbewusstsein und Deadlines den ganzen Spaß verderben? Der Impact des Klarträumens geschieht jedenfalls eher dann, wenn die Klarheit auf die übrigen Lebensbereiche überschwappt. Dadurch ist man auch erst wirklich bewusst und lebendig, so dass diese geistige Freiheit und die Beschäftigung mit den Herzensangelegenheiten sich früher oder später auch in die Träume inkubiert.


Die Geisteshaltungen


Wenn ich mich frage, wie mir die Klarheit im Leben unterstützend zur Seite stehen kann, dann denke ich gern nicht nur an spezielle Wünsche, sondern an grundsätzliche Klarheitsgeisteshaltungen. Das sind diejenigen geistigen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die man in einem sehr klaren und eindrucksvollen Traum auslebt oder gern ausleben möchte. Und warum nicht auch im Wachleben kultivieren?

Sicherlich verbindet jede mit der Traumklarheit ganz eigene Visionen und Gefühle. So wäre es am besten, wenn du als geneigte Leserin dir selbst eine Übersicht darüber bastelst. Doch zur Anregung, hier meine Vorstellung von dem, was in Klarträumen generell oft gefragt wird und was sich für mich persönlich sehr motivierend anfühlt.

Klarheitsgeisteshaltungen zum Kultivieren:
Die Macht aus der Tiefe
(Bildquelle: Iquiz)


  • Freiheit erleben
  • Reichtum des Erlebens
  • Verbundenheit mit der Welt
  • Erkunden der Welt
  • Inspiration erlangen
  • die Tiefen erforschen
  • sich selbst beistehen
  • sich von schädlichen Mustern erlösen
  • Veränderungen im Leben bewirken
  • Wärme empfinden
  • Erfüllung und Sinnhaftigkeit erfahren
  • Zugang zur Intuition gewinnen
  • das große Ganze sehen
  • usw.

Solche allgemeinen Eigenschaften kann man natürlich auch mit konkreten Vorhaben kombinieren. Aber es ist gut, wenn sie nicht zu speziell sind. Man kann sich z.B. überlegen, welche Orte man im Traum gerne öfter mal erkunden würde, weil sie symbolisch zu den Themen passen, die einen gerade bewegen. Wenn man dann im Klartraum doch woanders startet, oder wenn der Gedanke an das konkrete Ziel einen gerade nicht so packt, wendet man sich einfach einer der allgemeineren Geisteshaltungen zu. Und wenn man gerade gar nicht träumt - dann kann man sie trotzdem umsetzen.


Fazit


Ohne Motivation geht gar nichts. Aber die eigene Motivation kann man nicht erzwingen, nur seine Herzenswünsche erforschen und sich von falschen Glaubenssätzen befreien, die demotivieren. Die Übungen die man ausübt, sollten auch als Selbstzweck schon cool sein und der Spaß nicht davon abhängen, ob man einen Klartraum erlangt. Wenn man so vorgeht, kann man die Geisteshaltungen der Klarheit tagsüber und nachts im ganzen Leben etablieren und es wird eine langfristige, spannende Reise, mit immer neuen Erfolgen und Wandlungen. Man sollte nicht warten, bis das Leben einem den Freiraum dazu gibt, man sollte die Traumziele und Bewusstseinsübungen mit dem Lebensalltag abstimmen und die Klarheit hineinweben.


Sonntag, 26. Februar 2017

Zwänge - ausleben oder unterdrücken?


Die Schwere, die wir tragen
(Titian: Sisyphus)
Wir schelten uns gerne oder haben ein schlechtes Gewissen für all die vermeintlichen Laster, die wir herumtragen. Für unsere Abhängigkeiten, Süchte, Zwänge, unsere Schwächen und schwachen Momente – was wir auch immer darunter begreifen. Wir schämen uns für unsere Medien-"sucht", wollen unseren "übermäßigen" Konsum reglementieren, unsere "Faulheit" überwinden, wir fühlen uns schuldig für "dumme" oder "kranke" Gedanken, die wir doch nicht unterbinden können; wir meinen: Wir müssen fasten, verzichten, büßen, uns vielleicht bestrafen, nach strengen Regeln leben, wir machen uns Vorsätze, die nicht helfen, wir verfallen zurück ins alte Muster und fühlen uns wieder schlecht.

Dann, manchmal, regt uns die ganze Moral dahinter auf und wir rebellieren absichtlich durch trotziges, manchmal dummes Verhalten. Der Schlankheitswahn, die Prüderie der Gesellschaft, die Scheinheiligkeit der Nächstenliebe, der ganze Leistungsdruck – wir sind bockig und wollen den Exzess dessen, was uns doch schon immer zustehe. Wir glauben, wir haben die Vernunft mit ihrer Herrschaft besiegt und es lebe das wahre, chaotische ES in uns auf. Das halten wir ebenso kurz nur aus, es beginnt uns zu gruseln, das Chaos, die Unvernunft, - der Untergang? Wir fühlen uns wieder schlecht, noch schlechter vielleicht als vorher, denn wir meinen, wir sind abgestürzt.

Wir sind hin und her gerissen; zwischen Moral und Trotz; zwischen Schelte und Gegenschelte; zwischen Unterdrückung und Ausleben. Was sollen wir also tun? Wie geht man damit um? Und ist der Zwiespalt tatsächlich einer zwischen Vernunft und Trieben? Ja zwischen Gut und Böse? Zwischen Zivilisation und Barbarei?


Der Zwang zur Unterdrückung des Zwangs

A: "Aber es schadet uns ja wirklich! Ständig am PC zu sitzen, ständig Schokolade zu essen, ständig sich mit Alkohol zuzuschütten, ständig Pornos gucken, ständig schlechte Beziehungen eingehen, ständig unproduktiv zu sein, ständig drinnen zu sein, ständig draußen zu sein, ständig ..."

- Ja! Manchmal schädigt uns ein Zwang. Aber immer? Und was rechtfertigt das? Dass wir uns zur Strafe noch mehr schädigen?

A: "Aber das zeigt doch, dass wir eine Reglementierung brauchen! Ohne die läuft alles aus dem Ruder! Wir gehen unter, wir steuern auf einen Abgrund zu. Klar, es ist nicht schön, aber wir lernen ja nicht anders als durch die harte Hand. Und haben wir es letztlich nicht sogar verdient?"

Moralische Geißelung
(Gioacchino Assereto:
The Torture of Prometheus)
- Doch das ist falsch, grundfalsch. Nichts daran haben wir verdient.

B: "Genau! Der eigentliche Schaden liegt doch in der Selbstgeißelung! Sind wir etwa immer noch im Mittelalter, regiert die Moral im Zeitalter der Vernunft wie ein richtender Gott über uns? Unsere Triebe machen uns aus, wir können unsere Natur nicht verleugnen. Klar, manchmal tun wir dumme Dinge, manchmal sind wir egoistisch, aber was nutzt es, unsere Natur zu verleugnen?"

- Aber es ist keine Irrationalität, was in uns liegt. Die große Unvernunft erfasst beide Parteien: Es wird wild und ohne groß darüber sich jemals zu besinnen, ein Impuls ausgelebt – es ist gleichgültig, um welchen es sich dabei handelt. Sei es der Impuls eines vermeintlichen Zwanges oder der seiner Bestrafung. Die Ratio findet ihren Eingang hier nur in Form von Rechtfertigungsstrategien für etwas, das sich nicht rechtfertigen lässt.

Am Ende kommen wir dahin, dass wir auch unsere Selbstgeißelung wieder unterdrücken wollen, da wir erkennen: sie nutzt zwar die Form der Vernunft, agiert aber eigenständig, genau wie ein Zwang, der Zwang zur Selbstbestrafung. Ein Automatismus. Das Paradox entsteht nun, dass wir uns für unsere Schelte schelten wollen, dass wir sowohl Konsumsucht wie auch Fastensucht bekämpfen müssen, dass wir die negativen Gedanken nur mit anderen negativen Gedanken zu stoppen versuchen, und auch diese beenden müssen – es muss alles weg – das Paradox wird unaushaltbar.


Die liebevolle Reflexion

Was hilft? Was hilft das ganze Selbstgeißeln, was hilft das bloße Ausleben von Impulsen? Was hilft, wenn beides nicht mehr hilft, wenn eine Wahl zwischen ihnen wie die Wahl zwischen zwei gleichwertigen Übeln erscheint und wir orientierungslos zurückbleiben?

Reflexion der Impulse. Reflexion, während wir ausleben, Reflexion, während wir unterbinden. Und danach natürlich. Wenn eines in diesem ganzen Kreislauf das Problem ist, dann doch die Unreflektiertheit des gesamten Vorgangs. Man therapiert sich nicht, indem man seine Neigungen unterdrückt, man therapiert sich auch nicht, indem man sie blind auslebt. Niemandem hilft die Selbstgeißelung, das schlechte Gewissen, die Moral. Aber es hilft auch niemandem der wahnhafte Trotz.

Was schadet uns?
(Kamil Antosiewicz Monika Powalisz)
Wo ein Schaden festzustellen ist, da muss der Schaden anerkannt werden. Was schadet es aber wirklich, den ganzen Tag Fernzusehen? Worin besteht der tatsächliche Schaden, wild durch die Gegend zu vögeln? Was ist das wirkliche Problem daran, sich täglich eine Tafel Schokolade reinzupfeifen? Was für ein Schaden entsteht durch exzessive Kleptomanie? Ist es wirklich ein Schaden, ist es wirklich meine Schuld, wenn ich der Tante den Geburtstagsbesuch verweigere und sie dadurch gekränkt ist? Es gibt Schäden – aber nicht bei allem, was vermeintlichen Schaden bringt. Den wahren Schaden festzustellen und ihn vom eingebildeten Schaden zu unterscheiden, den das moralisierende Denken vorgibt, ist das erste große Problem. Die erste große Aufgabe – keine einfache Aufgabe, eine mühselige, langsame Untersuchung, die aber notwendig ist, um zur Wurzel vorzudringen.

Grundsätzliche Voraussetzung ist in dieser Reflexion die Hinterfragung aller Autoritäten. Wir müssen selber denken, selber entscheiden lernen. Und "unsere Gedanken" sind nicht einfach unsere Gedanken. Wir haben sie übernommen durch Erziehung, durch jahrzehntelange Sozialisation, durch Moral, durch Medien, durch die Schule, durch unsere Freunde, und v.a. - durch unsere nächsten Bezugspersonen, durch unsere Eltern. In unserem Kopf muss an die Stelle der strikten moralischen Regeln ein neuer Maßstab kommen und dieser muss aus uns selber kommen – aus unserem Innern, denn wo sonst sollte man ihn her holen? Wir müssen also zunächst lernen, selbst Schäden und Gefahren abzuschätzen. Und natürlich auch recherchieren. Kritisch recherchieren. Denn die Fakten und die Fähigkeit, vertrauenswürdige Fakten einzuschätzen, benötigen wir auch.

Als zweites kommt die Frage: Wenn und insofern etwas wirklich schadet – was ist die logische, pragmatische Konsequenz daraus? Was hilft? Wenn wir schon sahen, wie wenig Vorsätze und Reglementierungen uns helfen, wieso weiter darauf reinfallen? Wieso nicht etwas neues versuchen? Und wem zur Hölle soll es helfen, sich selbst nieder zu machen, sich schlecht zu reden, sich zu bestrafen, einfach nur sich zu bestrafen, in der Reue zu leben? Wen motiviert so etwas? Und wozu motiviert es einen? Eine "reumütige Erkenntnis" ist gar keine Erkenntnis. Sie ist Anpassung. Das Kind knickt ein, gibt den großen Eltern nach, zeigt sich unterwürfig – es ist eine letzte Strategie, um zu überleben. Es ist keine Erkenntnis aus eigenem Herzen. Das gescholtene Kind erkennt nicht, dass Egoismus schlecht ist, es entscheidet sich, zu denken, dass Egoismus schlecht sei, weil die Eltern es verlangen.

Also, was ist eine fruchtbare Konsequenz, die man aus einem schädigenden Verhalten zieht? Wir müssen uns diese Frage zunächst auf der Zunge zergehen lassen. Sie fragt nicht danach, wie man jemanden am besten bestraft, auch nicht, wie man einen am besten erzieht. Es ist keine moralisierende Frage, sondern eine liebevolle. Ganz recht: Es geht darum, sich selbst liebevoll zu behandeln, und dazu gehört unter anderem, sich zu helfen. "Komm, wir versuchen, das Problem gemeinsam zu lösen. Ich sehe, du leidest unter den Zwängen und auch unter dem schlechten Gewissen. Gegen beides müssen wir Lösungen finden." Es hilft zumindest, sich selbst dabei so zuzureden. Eine innere Instanz zu etablieren, die wahrhaft auf der Seite des inneren Kindes steht.


Sich Raum für Tiefe schaffen

Vielleicht ein paar praktische Tipps, am Ende? Wenn man sich etwas vornimmt, wie z.B. einen Zeitplan, dann kann das zwar helfen, aber es erzeugt oft auch enormen Druck und ein schlechtes Gefühl. Besser finde ich, seine Möglichkeiten zu verändern. Indem man sich z.B. Hürden schafft, damit man nicht aus Gewohnheit und ganz automatisch zur Packung Chips oder auf den TV oder sonstwas zugreifen kann, sondern es jedes mal eine bewusste Entscheidung und ein aufwendiger Akt sein muss. Das verhindert nicht, dass man danach greifen wird, und das muss es auch vielleicht gar nicht (das kommt natürlich auf den Fall an). Man wird es jedenfalls bewusster tun und wahrscheinlich auch weniger häufig. Und die Bewusstheit ist, wie eben argumentiert, ja ein Schlüssel zur Veränderung.

Raum für z.B. Kreatives
(Maxpixel)
Man kann sich auch Alternativen bereitstellen, die leichter zugänglich sind. Wenn der PC standardmäßig aus ist und erst eingeschaltet werden muss, ist es leichter, etwas zu zeichnen, sobald Blatt und Stift griffbereit immer vor einem liegen. Grundsätzlich helfen natürlich alle Dinge, die Bewusstsein in das Dunkel bringen. Die verstehen lassen, was man eigentlich für ein Problem hat. Wie diese Zwänge entstanden sind, wie die Schelte entstanden sind, und die eine Neubewertung ermöglichen. Häufig ist dazu Hilfe anderer besonders wichtig. Man sollte sie sich wirklich suchen. Wenn es nicht anders geht, muss man sich selbst helfen lernen. Z.B. mithilfe der inneren liebevollen Instanz, die man selber ist. Und indem man sich Zeit und Gelegenheiten nimmt, um reflektieren zu können.

Glaubensbilder und Phantasien, die unseren Impulsen zugrunde liegen, wollen ergründet werden. Manchmal hilft dazu Abstinenz, denn ein Entzug kann Gefühle in uns wachrufen, die wir mit genügend Reflexion zu Erkenntnissen umwandeln können. Manchmal hilft auch das einfache, vorsichtige, Ausleben. Wichtig ist auch hier, es zumindest später zu reflektieren: Was hab ich dabei gefühlt? Was habe ich mir damit erhofft? Wie zufriedenstellend wurde meine Hoffnung erfüllt? Und, weil uns Süchte meist nicht zufrieden stellen, wäre noch zu fragen: Wonach sehne ich mich im Inneren eigentlich, und was müsste anderes ich tun, um diesen Wunsch erfüllen zu können?

Mehr zu Möglichkeiten des inneren Wachstums werde ich noch in anderen Artikeln besprechen.